Flüchtlingskrise am Mittelmeer – «Millionen junge Maghrebiner wollen nach Europa – das schafft nur Probleme»
Maghreb-Experte Beat Stauffer lobt Italiens neue, rigide Asylpolitik. Auch die Schweiz brauche radikalere Lösungen und müsse den Druck auf die Herkunftsländer erhöhen, fordert er.
Claudia Blumer
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Italien und die EU vermelden einen massiven Rückgang der Migration auf der zentralen Mittelmeerroute. Bis Mitte August reisten dieses Jahr rund 38’000 Personen nach Italien, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es über 100’000. Grund dafür ist ein Abkommen zwischen Italien und Tunesien. Der Maghreb-Staat hindert die Migranten an der Ausreise und erhält dafür von Italien und der EU viel Geld und Wirtschaftshilfe.
An der tunesischen Küste sind die Zustände teilweise prekär, die Flüchtlinge sind ohne Obdach und Nahrungsmittel. Laut Menschenrechtsaktivisten werden sie schikaniert oder auch verhaftet und zu Hunderten in der Wüste ausgesetzt. Für Beat Stauffer ist es dennoch der richtige Weg. Der Autor beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Themen Maghreb, Migration und Islamismus. Sein neues Buch «Die Sackgasse der irregulären Migration» erscheint im Oktober.
Herr Stauffer, warum nennen Sie die Migration eine Sackgasse?
Ein grosser Teil der jungen Menschen aus dem Maghreb will unbedingt nach Europa. In Tunesien sind es laut einer Erhebung 70 Prozent der 18- bis 29-Jährigen. Doch die Anerkennungsquote tunesischer Asylsuchender in der Schweiz beträgt weniger als zwei Prozent. Die Menschen machen sich auf den Weg, obwohl sie keinen Anspruch auf Asyl haben.
Jeder hofft, zu den zwei Prozent zu gehören.
Deshalb wählen sie diesen Weg – und finden sich in einer unmöglichen Situation wieder. Sie werden abgewiesen, bleiben aber trotzdem und leben von Nothilfe. Das schafft nur Probleme, auch für die Migranten selber, es gibt keine konstruktiven Lösungen. Am Ende muss ein Algerier die Schweiz nach ein paar Jahren verlassen, wird womöglich zwangsweise ausgeschafft, hat hier insgesamt Kosten von über 100’000 Franken verursacht, ist nur frustriert und schimpft über die Schweiz. Es ist auch verständlich, dass die Betroffenen kriminell werden.
Warum?
Wer will schon von acht Franken Nothilfe pro Tag leben? Dann klauen sie eben. Asylsuchende aus den Maghreb-Staaten sind hier nicht erwünscht. Es fällt mir schwer, das zu sagen, als jemand, der sich mit dem Maghreb verbunden fühlt. Aber es ist so. Es sind vor allem junge Männer, die herumhängen und klauen. Es ist eine verheerende Dynamik, die gestoppt werden muss. Die irreguläre Migration ist eine Sisyphusarbeit, sie schafft nur Frust. Es braucht neue Lösungen.
Giorgia Meloni scheint mit Tunesien eine Lösung gefunden zu haben.
Es ist legitim, die irreguläre Migration zu bremsen und die Leute zurückzuschicken, wie Italien das jetzt macht. Aber man muss wissen, dass etwa 80 Prozent der Flüchtlinge, die in Italien ankommen, nicht aus den Maghreb-Staaten stammen, sondern von weiter südlich, aus Niger, Mali oder auch anderen Ländern wie Bangladesh. Sie hätten allenfalls Anrecht auf Asyl, werden jetzt aber ebenfalls in Tunesien gestoppt.
Der Rückgang der italienischen Asylzahlen wird als Erfolg der Meloni-Regierung gewertet.
Es ist tatsächlich ein Erfolg von Giorgia Meloni. Sie hat eine enge Zusammenarbeit mit Tunesien aufgegleist, was nicht einfach war. Der tunesische Präsident ist ein schwieriger Partner, ein Herrscher mit diktatorischen Zügen. Und bei der tunesischen Bevölkerung kommt diese Zusammenarbeit schlecht an.
Warum?
Erstens, weil sich die Geflüchteten aus den Ländern südlich der Sahara in Tunesien stauen. Zweitens, weil die Tunesier nun selber in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt sind. Sie können nicht mehr irregulär ausreisen. Doch diese Möglichkeiten wollen sie sich nicht nehmen lassen, denn viele sehen in einer Auswanderung ihre einzige Chance. Das Abkommen funktioniert nur, weil Italien begonnen hat, Arbeitsvisa auszustellen und im grossen Stil Wirtschaftshilfe zu leisten, zu investieren und Infrastrukturprojekte in Tunesien voranzutreiben, etwa im Bereich Energieversorgung.
Der Zustand an der tunesischen Küste ist prekär, Migranten haben keine Lebensmittel, werden vertrieben oder verhaftet.
Nicht nur in Tunesien ist die Lage für Migranten prekär, auch in anderen Maghreb-Staaten. Am schlimmsten ist es in Libyen. An der tunesischen Küste hausen die Migranten in improvisierten Camps und müssen stehlen, um überleben zu können. Es gibt auch Berichte über Deportationen und Aussetzungen in der Wüste.
Kann die EU diese Zustände in Kauf nehmen?
Sie hat keine andere Wahl. Der Migrationsdruck in all diesen Ländern ist enorm hoch. Wenn die EU nicht auf die Zusammenarbeit mit den Mittelmeerstaaten setzt, steigen die Zahlen noch viel stärker. Es gäbe massiv mehr Migration nach Europa. Selbst eine prononciert linke Politik könnte dies nicht in Kauf nehmen. Aber Europa muss unbedingt mithelfen, das Leid vor Ort zu lindern.
Wie?
Es wäre in der Verantwortung von Europa, sich um die gestrandeten Flüchtlinge zu kümmern und beispielsweise grosse Camps in Tunesien zu bauen, in denen es die nötigste Versorgung gibt. Auch müsste man eine Möglichkeit schaffen für diejenigen, die potenziell Anrecht auf Asyl haben, dass sie bei einer Vertretung vor Ort ein Gesuch stellen können. Dies könnte Bestandteil der Migrationsvereinbarungen sein.
Ist es denkbar, dass sich die Situation herumspricht und weniger Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika in den Norden reisen?
Die Lage in all diesen Ländern ist ganz schwierig. Deshalb wollen die Leute weg, das wird sich nicht ändern. Der Maghreb ist ein Schutzwall für Europa. Manche werden wütend, wenn ich das sage, aber es ist so. Gäbe es den Maghreb nicht, hätten wir Asylzahlen, die alles in den Schatten stellen, was wir kennen. Allein in Ägypten gibt es Millionen Transitmigranten aus dem Sudan und anderen Ländern, die darauf warten, weiterreisen zu können.
Auch die EU plant den Bau von Aufnahmecamps an ihren Aussengrenzen.
Ja, die Pläne der EU sehen rund 30’000 Plätze in eigentlichen Haft-Zentren vor. Diese Zentren müssten massiv bewacht werden, weil die Leute sonst abhauen würden. Sie sind nach langer Reise endlich in Europa und würden sicher nicht tatenlos auf ihre Rückschaffung warten. Es stellt sich die Frage, ob es rechtlich zulässig ist, Migranten mit geringen Chancen auf Asyl drei Monate in einem Camp festzuhalten.
Weil die Mittelmeerroute nach Italien erschwert ist, kommen mehr Flüchtlinge über die Kanarischen Inseln sowie die Türkei. Ist es am Ende ein Nullsummenspiel?
Das ist ein Denkfehler. Die höheren Migrationszahlen im östlichen Mittelmeer und über die Kanaren haben nur bedingt mit dem Abkommen zwischen Tunesien und Italien zu tun. Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara legen Tausende Kilometer zurück, sie können nicht beliebig umdisponieren, weil eine Route schwieriger geworden ist. Zudem ist es für maghrebinische Migranten meistens teurer, eine andere Route zu wählen.
«Europa gilt in diesen Ländern als schwach, weil es ans Völkerrecht gebunden ist.»
Beat Stauffer, Maghreb-Experte
Das Parlament will, dass der Bund mit Eritrea ein Migrationsabkommen aushandelt. Geplant ist auch, dass ein Vertreter regelmässig in die Hauptstadt Asmara reist. Sehen Sie eine Chance?
Ich würde das auf jeden Fall unterstützen. Die Schweiz muss mit Eritrea in einen Dialog treten, und wenn das nicht geht, Druckmittel einsetzen. Eritrea weigert sich, die abgewiesenen Asylsuchenden zurückzunehmen. Das ist nicht akzeptabel. Es müsste mindestens möglich sein, jene eritreischen Asylsuchenden, die schwere Delikte begangen haben, zurückzuschicken. Jedes Land muss seine Leute zurücknehmen.
Wie kann die Schweiz Druck aufsetzen?
Eritrea lebt von Geld aus dem Ausland, auch von der Diaspora in der Schweiz, seien es Überweisungen an Verwandte oder die indirekte Steuer, die von der eritreischen Vertretung bei Eritreern in der Schweiz eingezogen wird. Die Schweiz könnte versuchen, insbesondere die Überweisung der Steuern zu stoppen und auf einem Sperrkonto zu blockieren, bis Eritrea in einen Dialog einwilligt.
Wäre das rechtmässig?
Man müsste es abklären. Jedenfalls könnte die Schweiz kreativer sein. Eritrea, ein kleines, diktatorisch regiertes Land, hält quasi einen ganzen Kontinent in Geiselhaft, indem es jede Zusammenarbeit verweigert. Nur, weil es von China und Russland unterstützt wird. Das Problem der Schweiz und von Europa ist, dass wir in diesen Ländern als schwach gelten, weil wir ans Völkerrecht gebunden sind. Es stimmt, dass wir zahlreiche völkerrechtliche und internationale Verpflichtungen haben. Aber es gibt immer Möglichkeiten, wenn man sie sucht. Natürlich muss man jeden Vorschlag rechtlich prüfen. Aber einfach zu sagen, es gehe nicht, ist nicht akzeptabel.
Wo sehen Sie sonst noch Möglichkeiten, ausser bei den Geldflüssen?
Maghreb-Staaten und andere Länder sind etwa im Bereich Tourismus oder bei der Entwicklungszusammenarbeit auf uns angewiesen. Es gäbe Möglichkeiten, zu prüfen, wie man das einsetzen kann – bis hin zu Reisewarnungen. Selber haben viele dieser Länder wenig Hemmungen, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht. So hat Marokko 2021 rund 12’000 unbegleitete Minderjährige in die spanische Exklave Ceuta ausreisen lassen, weil diese das Asylwesen enorm belasten. Das marokkanische Regime wollte damit Druck aufsetzen, um Unterstützung für seine Westsahara-Politik zu erreichen. Wenn die Schweiz und Europa das mit sich machen lassen, untergraben sie das Vertrauen in den Staat. Rechtspopulistische Regierungen werden so in vielen Ländern die Oberhand gewinnen.
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